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Der übersehene Konflikt

Der übersehene Konflikt

Im Schatten des Nahost- und Ukrainekrieges nehmen die Spannungen in Ostafrika zu. Auch Europa wäre von den Folgen betroffen.

Das Rote Meer ist in letzter Zeit immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Die sogenannten Huthi-Rebellen beschießen wiederholt Containerschiffe, die zu Israel gehören oder dieses Land mit Waren beliefern. Das hat zu Reaktionen des Westens, insbesondere der USA und Großbritanniens geführt. Das Eskalationspotenzial ist groß und wächst mit jedem neuen Angriff, jedem weiteren Beschuss. Doch auf der anderen Seite des Roten Meeres, an derselben Meerenge, verschärfen sich unbemerkt von der Öffentlichkeit ebenfalls die politischen Spannungen. Hier, am Horn von Afrika, liegen Eritrea, Somalia, Dschibouti, und dahinter Äthiopien. Und dieses Ländergemisch birgt ein extremes Eskalationspotenzial.

Denn bei Äthiopien handelt es sich um eine bedeutende Regionalmacht, die mit ihren etwa 120 Millionen Einwohnern über eine große Bevölkerung verfügt. Diese soll bis 2030 auf etwa 150 Millionen anwachsen. Die Bevölkerung ist ethnisch sehr gemischt. Tatsächlich kommen in Äthiopien mehrere Volksgruppen zusammen, die in einem einzigen Staat vereint sind. Das führte in der Vergangenheit immer wieder zu Spannungen bis hin zum offenen Bürgerkrieg. Der jüngste Bürgerkrieg in diesem Land fand von 2020 bis 2022 statt und forderte Schätzungen zufolge mehr als 600.000 Tote. Dabei kämpfte die Zentralregierung des Landes zusammen mit Eritrea gegen die Kämpfer der Tigray People Liberation Front (TPLF) der Region Tigray. Auch nach diesem Bürgerkrieg kommt es in der Amhara-Region immer wieder zu Spannungen und Kämpfen.

Trotz dieser Konflikte innerhalb des eigenen Landes besteht die große Gefahr, dass Äthiopien einen Krieg gegen sein Nachbarland Eritrea vom Zaun bricht. In den vergangenen Wochen und Monaten gab es immer wieder Berichte, dass sich äthiopische Truppen an der Grenze zu Eritrea versammeln und jederzeit einen Krieg auslösen könnten. Für einen solchen Krieg gibt es gleich mehrere Gründe. Einer davon ist, dass Äthiopien eine Marine und einen Handelshafen etablieren will. Nun kann natürlich jedes Land selbstbestimmt eine Marine und einen Handelshafen einrichten. Das Problem dabei ist, dass Äthiopien ein Binnenstaat ohne Zugang zum Meer ist. Dieser Zugang zum Meer, so betont Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali immer wieder, sei jedoch von entscheidender Bedeutung für Äthiopien. Denn die aufstrebende Wirtschaft des Landes wird durch den fehlenden Zugang zum Meer stark beeinträchtigt, und eine schnell wachsende Bevölkerung muss versorgt werden.

Doch ein Land, dessen Regierung sich in den Kopf gesetzt hat, Zugang zum Meer zu erlangen, kann nicht einfach seinen Nachbarstaat überfallen. Und hier gibt es eine weitere Verwicklung. Denn Äthiopien war nicht immer ein Binnenstaat. Tatsächlich berufen sich die Politiker, die einen Zugang zum Meer etablieren wollen, auf die Zeit des äthiopischen Imperiums, das bis zur Eroberung des Horns von Afrika durch Großbritannien und Italien eine viel größere Fläche abdeckte als das Land heute. Der antike Vorläufer des heutigen Äthiopiens, das Königreich von Aksum, beherrschte in Zeiten seiner größten Ausdehnung sogar Teile der arabischen Halbinsel auf der anderen Seite des Roten Meeres.

Der Kolonialismus hat Teile des Horns von Afrika, vor allem an der Küste, in die Hände europäischer Staaten gebracht.

So hat Italien auf dem Gebiet des heutigen Eritrea und Somalia Kolonien eingerichtet und Äthiopien anschließend erobert. Der italienische Kolonialismus war jedoch nicht von langer Dauer, und die Kolonien fielen bald in die Hände Großbritanniens. Die äthiopische Freiheit wurde durch Großbritannien relativ schnell wiederhergestellt, Eritrea und Somalia verblieben jedoch zunächst in den Händen Großbritanniens und gelangten schließlich unter die formale Verwaltung der Vereinten Nationen, welche durch Italien und Großbritannien ausgeführt wurde. Auch der Kalte Krieg wirkte sich in dieser Region aus, da der ehemalige äthiopische Kaiser Haile Selassie als Antikommunist galt und daher vom Westen unterstützt wurde, wohingegen Somalia als kommunistisches Land von der Sowjetunion unterstützt wurde.

1952 wurden Eritrea und Äthiopien in einer Föderation vereint. Dies wurde auch durch die Vereinten Nationen unterstützt. Das Modell sah vor, Eritrea weitreichende Eigenständigkeit in Fragen der Innenpolitik und Sicherheit zu belassen. Nur die Außenpolitik sollte durch Äthiopien erfolgen. Damit hatte Äthiopien wieder einen Zugang zum Meer, nämlich den gesamten Streifen Eritreas. Allerdings stieß dieses Modell in Eritrea auf wenig Gegenliebe. Schon bald kam es zu Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen, die mit dem Sturz Selassies 1974 und der Etablierung einer Militärdiktatur unter Mengistu Haile Mariam in Äthiopien in einen Bürgerkrieg mündeten, der erst 1991 mit der Unabhängigkeit Eritreas endete.

Während dieses Krieges etablierte sich in Eritrea ein repressives Militärregime unter der Führung von Präsident Isayas Afewerki. Dieses Regime, eine Einparteienherrschaft mit Afewerki als einzigem Machthaber ohne eine eigene Legislative, besteht bis heute. Die Zustände in dem kleinen Land sind so dramatisch, dass es oft mit Nordkorea verglichen wird. Tatsächlich rangiert das Land in allen Rankings, welche die Wirtschaft, die Freiheit oder die Entwicklung von Ländern bewerten, regelmäßig an letzter Stelle noch hinter Nordkorea. Das Land ist durch und durch militärisch organisiert. Jeder Bürger, ob Mann oder Frau, ist verpflichtet, mindestens 18 Monate Militärdienst zu leisten.

De facto aber wird kaum jemand nach 18 Monaten entlassen, sodass der Militärdienst teilweise für Jahrzehnte anhält. Die Methoden des Militärs sind zudem überaus brutal. Folter und Gewalt sind an der Tagesordnung. Wer sich dem Militärdienst zu entziehen versucht, wird bestraft. Doch nicht nur er oder sie; auch die Familie, Freunde und Bekannte können bestraft werden. Es ist eine Sippenhaft, die noch über das hinausgeht, was aus Nordkorea bekannt ist. Das Land verfügt über keine Gewaltenteilung. Tatsächlich ist es so, dass der Präsident alle Gewalt in seiner Hand vereint. Gesetz ist, was dem Präsidenten gerade gefällt.

Die Spannungen zwischen Eritrea und Äthiopien hielten noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges und der Unabhängigkeit Eritreas an. Es gab Grenzkonflikte, da die Grenzen im Laufe der Zeit des Kolonialismus immer wieder verschoben wurden und beide Seiten sich unterschiedlicher historischer Karten bedienten, um die Grenzen festzulegen, die den eigenen Interessen nützten. Ein Vermittlungsversuch der Vereinten Nationen, der unter anderem vorsah, dass Äthiopien den eritreischen Hafen von Assab für seinen Handel nutzen durfte, scheiterte. Und beide Seiten waren in ständiger Alarmbereitschaft. Seitdem läuft der gesamte Außenhandel Äthiopiens über Dschibouti, ein kleines Land zwischen Eritrea und Somalia an der Küste. Nur ein einziges Bahngleis verbindet den Hafen mit Äthiopien, eine sehr enge und auch anfällige Verbindung.

Erst durch die Wahl des Premierministers Abiy Ahmed Ali im Jahr 2018 veränderten sich die Dinge. Denn er setzte auf eine Entspannung mit Eritrea, und so kam es, dass er schon nach kurzer Zeit als erster Staatschef Äthiopiens seit langer Zeit das Nachbarland Eritrea besuchte. Auch die Grenzen wurden wieder geöffnet, und diplomatische Beziehungen wurden wiederhergestellt. Dazu erkannte er die vormals umstrittenen Grenzregionen als eritreisch an, akzeptierte den UN-Friedensplan und unterzeichnete einen Friedensvertrag mit Eritrea. Dafür wurde ihm 2019 sogar der Friedensnobelpreis verliehen. Die Beziehungen verbesserten sich so sehr, dass Eritrea Äthiopien sogar half, die Tigray People Liberation Front (TPLF) zu bekämpfen.

Leider war der Friede nicht von langer Dauer. Denn noch während des Bürgerkrieges in Äthiopien, während dem Eritrea an der Seite der äthiopischen Regierung kämpfte, kam es zu Verstimmungen zwischen beiden Seiten aufgrund des Verhaltens Äthiopiens.

So hat die äthiopische Regierung mehrfach ihre Soldaten zurückgezogen, ohne den eritreischen Verbündeten darüber zu informieren, was zu bedeutenden Verlusten auf Seiten Eritreas führte. Zudem wurde Eritrea von den Friedensgesprächen zwischen der TPLF und der äthiopischen Regierung ausgeschlossen. Dabei betraf der Krieg auch Eritrea, da die TPLF auch Eritrea gegenüber feindlich gesinnt war und Grenzkonflikte mit diesem Land auszufechten versuchte. Zudem wurde Eritrea beschuldigt, noch immer Soldaten auf dem Gebiet Tigrays stationiert zu haben.

Doch der wichtigste Faktor für die sich verschlechternden Beziehungen der beiden Staaten war wohl die Rede Abiy Ahmeds am 15. Oktober 2023. In dieser erklärte er, dass Äthiopien ein Recht zu einem Zugang zum Roten Meer habe und dieses durchsetzen müsse. Abiy Ahmed verstrickte sich dabei immer wieder in widersprüchliche Aussagen, in denen er zum einen betonte, die Angelegenheit friedlich klären zu wollen, während er andererseits mit Krieg drohte. Äthiopische Soldaten versammeln sich seitdem nicht nur an der Grenze zu Eritrea, nicht weit entfernt von der Hauptstadt Asmara, sondern auch unweit der Hafenstadt Assab. Eritrea seinerseits zieht seine Soldaten an der Grenze zusammen, und so können die Spannungen jederzeit explodieren.

Weitere Konfliktherde

Doch ist Eritrea nicht der einzige Nachbarstaat, den Äthiopien vor den Kopf stößt. Anfang Januar 2024 hat die äthiopische Regierung ein Abkommen mit der Regierung Somalilands geschlossen, demzufolge Äthiopien eine Küstenlinie von 20 Kilometern für 50 Jahre pachten darf, um dort über einen Hafen Handel abzuwickeln. Bei Somaliland handelt es sich um eine Region Somalias, die sich 1991 von Somalia unabhängig gemacht hat, gegen den Willen der dortigen Regierung. International wird die De-facto-Republik nur von Taiwan anerkannt. Im Gegenzug für die 20 Kilometer Küstenlinie hat Äthiopien Somaliland daher nicht nur Anteile an der äthiopischen Fluggesellschaft versprochen, sondern ebenso die lang erhoffte Anerkennung. Hinzu kommt eine Zusammenarbeit des Militärs und der Geheimdienste. Der nationale Sicherheitsberater Abiys, Redwan Hussein, erklärte, dass Äthiopien zudem eine Marinebasis an der Küste Somalilands etablieren werde, was ein seit langer Zeit verfolgtes Ziel des Landes ist.

Diese Anerkennung missfällt der somalischen Regierung verständlicherweise, da auf diese Weise der Status Quo zementiert wird. Jede Anerkennung Somalilands wird von Somalia als Angriff auf die eigene territoriale Integrität aufgefasst. Die Ankündigung des Abkommens hat daher scharfen Widerspruch aus Somalia erfahren und die Region erschüttert. „Als Regierung haben wir den gestrigen illegalen Eingriff Äthiopiens in unsere nationale Souveränität und territoriale Integrität verurteilt und zurückgewiesen. Kein einziger Zentimeter Somalias kann und wird von irgendjemandem weggezeichnet werden“, erklärte der somalische Präsident Hassan Sheikh Mohamud in einem Statement auf X.

In einem Regierungsstatement hieß es: „Die Bundesregierung von Somalia betrachtet dies als einen feindseligen Schritt, der (...) eine eklatante Übertretung und ein Eindringen in die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unabhängigkeit der Bundesrepublik Somalia darstellt.“

Präsident Mohamud erklärte zudem, dass zur Umsetzung des Abkommens Äthiopier somalisches Gebiet betreten müssten, was er als Problem bezeichnete. Mit diesem Gebiet ist Somaliland gemeint, welches der Präsident Somalias weiterhin als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet.

Eine Mediation zwischen Somalia und Äthiopien lehnte die somalische Regierung ab. Mehrere afrikanische Organisationen hielten zudem Sondersitzungen aufgrund der Vereinbarung ab.

Die plötzliche Hinwendung Abiys zu Somaliland könnte auch der sinkenden Popularität des Ministerpräsidenten zu verdanken sein. Dieser verliert seit dem Krieg in Tigray und wegen der wachsenden Spannungen in den Regionen Amhara und Oromia an Unterstützung, und so könnte der Deal, der eine populäre Forderung nach einem Zugang zum Meer bedient, ein Versuch sein, an Beliebtheit zu gewinnen.

Die USA und Ägypten unterstützen jedoch Somalia und verurteilten den Schritt Äthiopiens scharf. So betonte Ägyptens Präsident Al-Sisi, dass Ägypten eine Verletzung der territorialen Integrität Somalias nicht zulassen werde. Ägypten und die USA verfolgen jedoch auch ihre eigenen Interessen. So hat Ägypten eigene Vorbehalte gegen Äthiopien, da das Land durch einen äthiopischen Staudamm am blauen Nil die eigene Wasserversorgung durch den Fluss gefährdet sieht. Die USA wiederum fürchten eine Übermacht Äthiopiens, bei dem es sich bereits um eine Regionalmacht handelt, und damit auch einen Kontrollverlust über die Region. Ägypten wird wiederum von den USA unterstützt, weshalb es wenig überrascht, dass das Land sich auf jene Seite stellt, für die auch die USA Partei ergreifen. Doch auch die Afrikanische Union, Katar und die Türkei unterstützen Somalia und veröffentlichen Statements, die die äthiopische Regierung drängen, die Integrität Somalias anzuerkennen.

Dass es zwischen beiden Staaten zu einem bewaffneten Konflikt kommt, ist derzeit jedoch nicht sicher. Zwar verfügt Somalia über eine Armee, die gerade einmal 20.000 Soldaten umfasst, während Äthiopien über 130.000 Soldaten verfügt – und das äthiopische Militär ist zudem besser ausgestattet. Doch beide Länder haben eine Geschichte bewaffneter Auseinandersetzungen. So ist Somalia 1977 in Ogaden, einer damals umstrittenen Region, die heute zu Äthiopien gehört, einmarschiert. Äthiopien schlug zurück, konnte den Krieg gewinnen und damit die Region endgültig in seine Gewalt bringen. Dieser Konflikt und seine Folgen sind auch dafür verantwortlich, dass Somaliland sich schließlich zu einem eigenständigen Staat erklärt hat.

Mit den zunehmenden Spannungen innerhalb Äthiopiens, zwischen Äthiopien und Eritrea, und wachsenden Unruhen in Somaliland, könnte Somalia sich jedoch in der Lage fühlen, die Situation militärisch zu eskalieren, um Somaliland wieder in das eigene Staatsgebiet zu integrieren und Äthiopien abzustrafen. Unterstützt werden könnte Somalia dabei durch Ägypten oder die USA. Ein Krieg scheint jederzeit möglich. Andeutungen, dass ägyptisches Militär nach Somalia verlegt werden könnte, wurden bereits laut.

Bilanz

Das Horn von Afrika wird derzeit von schweren Spannungen beherrscht; seien es jene zwischen Äthiopien und Eritrea oder die neuen Spannungen zwischen Äthiopien und Somalia. Hinzu kommen Bürgerkriege in Somalia und Äthiopien, welche die Situation zusätzlich erschweren und die ganze Region zu einem unberechenbaren Pulverfass machen.

Ein neuer Krieg in dieser Region wäre für hunderte Millionen Menschen eine Katastrophe und könnte auch neue Flüchtlingsströme in Gang setzen.

Doch selbst, wenn ein Krieg ausbleibt, so verschärft das Vorgehen Äthiopiens die Spannungen in der Region und droht, diese zu destabilisieren.


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